Seit einigen Jahren werden die Begriffe der Plattformökonomie und des Ökosystems inflationär in Präsentationen und Artikeln verwendet. Die Idee begeistert nach wie vor die Versicherungswelt, doch die Ernüchterung setzt oft rasch ein.
Der Reiz der Ökosysteme
In einem Beitrag zum Thema Ökosysteme kommt niemand an einem Namen vorbei, auch wenn das Unternehmen auf den ersten Blick nichts mit Versicherungen zu tun hat: Amazon. Das, was der Konzern geschaffen hat, kann als Blaupause für ein Ökosystem dienen. Die Basis bildet die global bedeutende Verkaufsplattform. Gebunden wird die Kundschaft mit dem Loyalty-Programm „Amazon Prime“, das eine bunte Vielfalt von Services zur Verfügung stellt. Überall wimmelt es von kostenpflichtigen Zusatzangeboten und Ergänzungen. Nach der Idealvorstellung von Amazon benötigen dessen Kunden keine weiteren Anbieter. Sie sind eingesponnen in ein dichtes Netz von Services und Optionen.
Mit diesem System generiert Amazon unzählige Anlässe für den Kundenkontakt und dominiert den Kundenzugang. Und genau das bietet die Option, weitere Partner einzubinden, um dann an deren Geschäften zu partizipieren. Auf das gleiche Modell greift auch Apple zurück. Der klassische „Lock-in“-Effekt, nur kundenfreundlicher verpackt.
Aufgeschreckt durch Spekulationen, Amazon könnte in das Versicherungsgeschäft in großen Stil einsteigen, haben sich Versicherungsgesellschaften in Deutschland, Österreich und der Schweiz mit der Idee der Plattformen und der Ökosysteme auseinandergesetzt und sich das Ziel gesetzt, ähnliche Systeme zu schaffen.
Auf einer abstrakten Ebene handelt es sich bei einem Ökosystem um ein sozio-technisches System, das nicht nur digitale und technische Systeme umfasst, sondern Organisationen und Menschen sowie deren Beziehungen untereinander einschließt. So hat es Fraunhofer IESE beschrieben. Der Nutzen innerhalb des Ökosystems übersteigt die Summe der einzelnen Leistungen, die von den am Ökosystem beteiligten Unternehmen angeboten werden. Ein wesentlicher Unterschied zu klassischen Kooperationen oder Netzwerken.
Weg vom Denken in Sparten
Bereits bei der grundlegenden Definition eines Ökosystems fällt auf, dass hier in erster Linie von Menschen und Beziehungen die Rede ist. „Produkte“ tauchen hier noch gar nicht auf. Ein wesentlicher Punkt: Um überhaupt erfolgreich Teil eines Ökosystems zu sein, ist es wichtig, sich vom Denken in Sparten und Produkten zu lösen. Nur die wenigsten Kund:innen dürften morgens mit dem Gedanken aufstehen, an diesem Tag eine Versicherung zu benötigen. Was aber gleich nach dem Aufstehen beginnt, ist eine Bewegung in Lebenswelten.
- Gesundheit und Fitness: von Yoga als Ritual über das Joggen bis zum abendlichen Gang in das Fitnessstudio.
- Mobilität: Wege zur Arbeit, zum Einkauf, zu Freizeitaktivitäten.
- Arbeit und Beruf: Womit die meisten Menschen den Großteil ihrer Tage zubringen.
- Finanzen: Ebenfalls ein wichtiges Element, das nahezu täglich eine Rolle spielen dürfte.
Tatsächlich handelt es sich hierbei auch bereits um die Lebenswelten, die von Versicherern aktuell als besonders relevant identifiziert wurden. Entsprechend sind hier bereits aktuelle Entwicklungen zu finden. So hat die Zurich-Gruppe einen eigenen Geschäftsbereich rund um Gesundheit und Wohlbefinden geschaffen, der ein Ökosystem aufbauen soll. Baloise arbeitet an einem Ökosystem zur Mobilität und arbeitet mit Start-ups zusammen.
Welche bedeutende Rolle digitale Ökosysteme im Leben von Versicherten spielen können, zeigt ein Blick nach China, wo etwa WeChat auf den Smartphones der Nutzer:innen eine zentrale Rolle einnimmt. Entsprechend viele Insurtechs und Versicherungen sind dort auch aktiv.
Vom Teilnehmer zum Orchestrator?
Es gibt verschiedene Spielarten, wie Versicherer digitale Ökosysteme für sich nutzen können. Da ist zunächst die Rolle des Teilnehmers. Die Gesellschaft ist mit ihrer Lösung Teil eines vorhandenen Ökosystems, das sich bereits etabliert hat.
Ein Schlüsselpartner deckt innerhalb des Ökosystems verschiedene Lebenswelten ab und bietet so umfassende Lösungen und hohen Nutzen in einem Bereich, in dem er nicht nur prominent präsentiert wird, sondern von den Nutzerinnen und Nutzern regelmäßig eingesetzt wird.
Als Orchestrator übernimmt ein Versicherer die Rolle eines Amazons oder WeChat und dockt die Lösungen von Dritten in seinem Ökosystem an. Damit erzielt er auch die größten wirtschaftlichen Vorteile des Ökosystems – allerdings ist dieses Ziel auch am schwierigsten zu erreichen.
Potenzielle Hindernisse für Versicherer
Es gibt einige Hürden, an denen Versicherer bei der Nutzung oder beim Aufbau von Ökosystemen scheitern können.
- Der eigene Anspruch: Der Weg von der strategischen Entscheidung für ein Ökosystem bis zum Orchestrator eines eigenen Ökosystems ist weit. Häufig ist aber der Wunsch nach einem eigenen Ökosystem das alles beherrschende Ziel. So bleibt die Enttäuschung dann kaum aus, wenn die eine App, die das gesundheitliche Wohlbefinden adressiert oder die Verträge von Kundinnen und Kunden überwacht, nur eine begrenzte Nutzerzahl findet.
- Zu geringe Relevanz: Wenn die (potenziellen) Kundinnen und Kunden die Bemühungen zu wenig würdigen, kann das daran liegen, dass der Versicherer die eigene Relevanz im Leben der Menschen überschätzt hat. Was oft daran liegt, dass der Nutzen der Anwendungen, Lösungen oder initiierten Plattformen zu gering ist. In der Regel ist das der Fall, wenn bei der Entwicklung zu stark an Produkte und konkrete Lösungen gedacht worden ist.
- Technologie: Zum Aufbau eines digitalen Ökosystems und deren Nutzung ist ein hoher digitaler Reifegrad nötig. Partner müssten sich via einfacher APIs an das System andocken können. Oder die eigenen Lösungen müssen einfach in bestehende Systeme integriert werden können. Um sich gern und häufig in dem System zu bewegen, ist für die Kundinnen und Kunden Voraussetzung, dass es leicht zu bedienen ist. Und hier mangelt es in vielen Gesellschaften noch an der Basis (Stichwort Legacy-Systeme).
- Zu starre Entwicklungsstrategien: Ein Ökosystem lebt von der Veränderung und der Antwort auf geänderte Bedürfnisse der Teilnehmenden. Darauf muss auch die Softwareentwicklung reagieren können. Hier bieten agile Managementmethoden die beste Antwort. Doch dabei ist nicht längst jede Versicherung dort, wo sie sein könnte.
Vor diesem Hintergrund ist es ratsam, nicht nur kritisch die eigenen Voraussetzungen zu überprüfen, sondern auch mit kleineren Partnerschaften zu beginnen, um Erfahrungen zu sammeln und die Relevanz der eigenen Strategie in den Lebenswelten der Kundinnen und Kunden zu erproben. Nur so lassen sich die Vorteile von Ökosystemen auf längere Sicht nutzen.
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