Die Blinden und der Elefant – Umgang mit Wissen in der Facharchitektur


Die menschlichen Fähigkeiten zur Wahrnehmung der objektiven Realität sind beschränkt. Jeder Mensch nimmt die Wirklichkeit subjektiv wahr – Komplexität und Informationsdefizite sind nur beispielhafte Ursachen. Was für den Einzelnen eine Herausforderung ist, potenziert sich, wenn mehrere Akteure zusammenkommen. Im Bereich Workflow und Betrieb befassen wir uns damit, wie wir uns der objektiven Realität für die Versicherungsindustrie annähern können. Wie machen wir das? Was hat ein Elefant damit zu tun? Und wie wirkt sich das Ganze konkret auf unsere Anwendungsentwicklung aus?

„Die Blinden und der Elefant“

Die Parabel „Die Blinden und der Elefant“ handelt von einer Gruppe blinder Männer – oder von Männern in vollständiger Dunkelheit, die begreifen möchte, um was für ein Tier es sich bei einem Elefanten handelt. Die Männer verteilen sich um den Elefanten herum und beginnen, den Elefanten zu betasten. Jeder der Männer untersucht dabei einen anderen Teil des Elefanten. Derjenige, der den Rüssel ertastet, behauptet: „Ein Elefant ist wie eine Schlange.“ Der Mann, der den Schwanz untersucht, entgegnet: „Nein, ein Elefant ist wie ein Seil.“ Und derjenige, der am Bauch des Elefanten steht, folgert wiederum: „Eindeutig, ein Elefant ist wie eine Mauer.“ Die anderen wenden ein, ein Elefant sei vielmehr wie ein Baumstamm, ein Luftfächer oder wie ein Speer – je nachdem, an welcher Stelle des Elefanten sie stehen. Jeder der Blinden beruft sich bei seiner Beschreibung des Elefanten auf sein persönliches Verständnis. Es beginnt ein Streit darüber, was ein Elefant in Wirklichkeit sei. Die Blinden können sich nicht einigen – wer hat Recht und wer hat Unrecht?

In der Parabel steht der Elefant für die objektive Realität. Die Lösung des Konflikts zwischen den Männern bestünde darin, die individuellen Informationsstände zu konsolidieren und zu verknüpfen, um sich als Gruppe ein Verständnis vom Elefanten verschaffen zu können.

Was hat eine Facharchitektur mit unserem Elefanten gemein?

Obwohl die Parabel mehr als 3000 Jahre alt sein dürfte (so genau weiß man das leider nicht), lässt sich ihre Kernaussage auf vielerlei Bereiche anwenden – so auch für den Themenbereich der Facharchitektur. Im Rahmen einer Unternehmensarchitektur übernimmt die Facharchitektur die Rolle einer steuernden fachlichen Instanz zwischen Strategie und Umsetzung. Eine Facharchitektur ist dabei ein fachlich vollständiger Referenzrahmen, welcher Soll-Funktionalitäten und Konstruktionsprinzipen vorgibt, fachliche Verantwortlichkeiten abgrenzt sowie Kommunikationen zwischen Fachsystemen beschreibt. In der Folge muss die Facharchitektur mit einer Vielzahl an Informationen und Beteiligter umgehen. Daraus ergeben sich Herausforderungen, die sie mit unserem Elefanten gemein hat:

Herausforderung 1: Modell-Vielfalt

Eine Facharchitektur verfügt über eine große Vielfalt an Modellen, welche Abhängigkeiten untereinander aufweisen. Die Facharchitektur kennt Domänenmodelle, Datenmodelle, Prozessmodelle, Zustandsmodelle und viele weitere. Dabei verhält es sich wie bei unserem Elefanten – es hilft nicht, nur ein Modell zu kennen und zu verstehen. Es ist auch nicht die Frage, welches Modell im jeweiligen Kontext „richtiger“ oder „relevanter“ ist als das andere. Entscheidend sind die Gesamtheit und das Zusammenspiel der Modelle.

Herausforderung 2: Klassen- und Entitäten-Vielfalt

Auf einer tieferen Ebene der Facharchitektur ergibt sich eine weitere Herausforderung. Als wesentliche Schnittstelle zwischen Business und IT muss eine Facharchitektur die beiden Bereiche miteinander verbinden. Um dies zu schaffen, muss sie sowohl Elemente der Fach- als auch der Anwendungsebene berücksichtigen und beschreiben. In Summe beinhaltet eine Facharchitektur daher eine große Vielfalt an Klassen und Entitäten. Dazu zählen u. a. Geschäftsprozesse, Geschäftsentitäten, Geschäftsregeln, Geschäftsdomänen, Geschäftsfunktionen, Geschäftsservices, Schnittstellen, Fachobjekte sowie vollständige fachliche Datenmodelle. Nur wenn eine Facharchitektur all diese Elemente beinhaltet, kann sie eine Vollständigkeit erreichen, um langfristig als stabile fachliche Referenz zu dienen. Im Hinblick auf unseren Elefanten ist von zentraler Bedeutung, dass an den zuvor aufgeführten Entitäten i. d. R. sehr viele Personen mit individuellen Sichtweisen beteiligt sind. Die Geschäftsdomänen werden häufig von DomänenexpertInnen beschrieben, während Geschäftsprozesse nicht selten von den jeweiligen ProzessexpertInnen definiert und dokumentiert werden. Die Facharchitektur muss eine Verbindung zwischen den Klassen und Entitäten im Sinne der übergeordneten fachlichen Konstruktionsprinzipen der Facharchitektur herstellen, um das objektive Ganze verständlich zu machen.

Herausforderung 3: Sprache und Begrifflichkeiten

Aus der Vielfalt an Elementen und Beteiligten in einer Facharchitektur erwächst eine dritte wesentliche Herausforderung: Der Umgang mit Sprache und Begrifflichkeiten. Ausgehend von der Rolle der Facharchitektur als fachlich vollständige Referenz stellt sich die Frage, mit welcher einheitlichen Terminologie man eine derartige Referenz definieren und beschreiben soll? In der Praxis kommt es jedoch häufig vor, dass fachlich gleiche Dinge unterschiedlich benannt werden – je nachdem, in welcher Abteilung man arbeitet oder welcher Unternehmenseinheit man angehört. Die Facharchitektur ist gefordert, Terminologien zu konsolidieren, um auf dieser Basis die Referenz beschreiben und eine fachlich eindeutige Sprache vorgeben zu können. Auch bei dieser Herausforderung muss die Facharchitektur demnach die individuellen Realitäten – um den Elefanten herum – miteinander verknüpfen, um eine objektive Realität zu erreichen.

Die Herausforderungen zwingen die Facharchitektur dazu, sich aktiv mit Informationen und Beteiligten auseinanderzusetzen. Dabei muss ein Fokus auf den Verbindungen und Abhängigkeiten von Informationen liegen. Denn um den gesamten Elefanten zu begreifen, benötigt es umfassendes fachliches Wissen. Und Wissen entsteht durch die Verknüpfung von Informationen.

Ontologien als geeignetes Werkzeug für die Facharchitektur

Im Bewusstsein der Herausforderungen und der Struktur von Wissen sind geeignete Werkzeuge und Methoden nötig, um Wissen zu dokumentieren und zu managen. Ein solches geeignetes Werkzeug stellt hierbei eine Ontologie dar. Diese beschreibt ein allgemein anerkanntes Verständnis eines Anwendungsbereichs, das alle Personen und Anwendungen gemeinsam teilen und verwenden. Rein formal beschreibt eine Ontologie eine hierarchische Wissensstruktur, die aus Klassen und Unterklassen besteht, welche über Attributierungen detailliert und mittels Relationen miteinander in Beziehung gesetzt werden. Durch eine Implementierung von Regeln sind logische Schlussfolgerungen innerhalb der Struktur möglich. So viel zur Theorie – wie haben wir das in der Praxis umgesetzt?

Im Bereich Workflow & Betrieb haben wir eine eigene Ontologie aufgebaut. Auf Basis des sem.reasoner, einer deduktiven Datenbank für Ontologien als Produkt unserer Muttergesellschaft adesso SE, haben wir einen Frontend-Webclient entwickelt. Mithilfe dieser Anwendung ist es möglich, die Facharchitektur mit ihren Verknüpfungen und Abhängigkeiten auf nutzerfreundliche Art und Weise zu modellieren, zu dokumentieren, zu persistieren und zu versionieren.

Mehrwerte einer ontologischen Facharchitektur

Unsere Anwendung sowie das darin befindliche Wissen sind natürlich nicht nur Mittel zum Zweck, um den Facharchitekten glücklich zu machen. Vielmehr generieren wir daraus unmittelbar Mehrwerte im Rahmen der Produktentwicklung von in|sure Workflow. Wir transformieren Geschäftsprozesse. Was heißt das? Basierend auf den Strukturen der Facharchitektur transformieren wir ausführbaren Workflow-Code. Dazu haben unsere Entwickler dedizierte Development Kits gebaut, welche ontologische Strukturen in eine Workflow-Implementierung überführen. Es ist die Ontologie, welche uns hierbei einen Low-Code-Ansatz ermöglicht.

Über die Vorteile im Rahmen der Produktentwicklung von in|sure Workflow hinaus ist die Liste der relevanten Mehrwerte einer Ontologie natürlich lang. Wesentliche weitere Mehrwerte sind u. a. die folgenden:

  • Das Wissen in der Facharchitektur kann jederzeit passend zu Kontext und Zweck bereitgestellt und als zentrale fachliche Referenz genutzt werden.
  • Die semantische Auswertung von Relationen und Regeln (Semantic Reasoning) ermöglicht die Generierung von implizitem Wissen – also Wissen, welches in der Struktur vorhanden ist, jedoch nicht explizit modelliert wurde.
  • Die Implementierung von Regeln ermöglicht die Etablierung einer einheitlichen Terminologie für die Fachlichkeit.

Ausgehend von diesen Mehrwerten ist eine Nutzung der Anwendung und Inhalte im Rahmen von unterschiedlichsten Anwendungsfällen denkbar. Drei Anwendungsbeispiele sind:

  • Softwaretest: Die Ontologie kann zur Testfallerstellung sowie zur Planung und Überprüfung von fachlicher Testabdeckung genutzt werden.
  • Abhängigkeitsanalysen: Im Zuge einer Untersuchung von Abhängigkeiten (z. B. bei Datenmodell- oder Schnittstellenänderungen) liegt das Wissen strukturiert vor und kann passend zu Kontext und Zweck bereitgestellt werden.
  • Terminologie: Die Einheitlichkeit und Wiederverwendbarkeit von Sprache und Dokumentation kann für Glossare und Leistungsbeschreibungen genutzt werden.

Fazit

 Die Speicherung und Verfügbarkeit von Informationen stellen keine Herausforderung dar. Die Verknüpfungen und Abhängigkeiten sind im Umgang mit Wissen entscheidend. Eine Ontologie kann ein allgemeines anerkanntes Verständnis von Facharchitektur schaffen und auf diese Weise dabei unterstützen, unseren Elefanten als Ganzes zu begreifen und die Facharchitektur in ihrer Funktion als fachliche Referenz zu stärken. Eine Facharchitektur als Wissensstruktur ist nicht nur Mittel zum Zweck, sondern dient v. a. der Generierung von Mehrwerten auf unterschiedlichen Ebenen. Mehrwerte, die im Bereich von Produkten und Prozessen entstehen, können sich positiv auf Kundenerfahrungen und -beziehungen auswirken.

Und all denjenigen, die nun in Gedanken an den eigenen Elefanten eine große Komplexität vor sich sehen und sich fragen, wie sie ihre Informationen in eine Struktur überführen können, sei folgendes an die Hand gegeben: Beginnt in Teilbereichen und -domänen, nach und nach Wissen als physische Ressource aufzubauen! Denn: Wie isst man einen Elefanten? – Stück für Stück.

Sie möchten über Digitalisierung bei Versicherungen sprechen? Dann freut sich unser Experte Karsten Schmitt, Head of Business Development bei adesso insurance solutions, auf Ihre Kontaktaufnahme.

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