„Stillstand ist Rückschritt“, „Panta rhei – alles fließt“ oder „Wer nicht mit der Zeit geht, der geht mit der Zeit“. Dies sind alles Sprichworte, die gut zur aktuellen Diskussion rund um die Modernisierung der Kernsysteme bei Versicherungen passen würden. Dieser Artikel teilt eine Sicht auf die aktuelle Lage, verschiedene Perspektiven und Argumentationen, und warum es ohne nicht gehen wird.
Ungefähr seit den 1960er Jahren setzt die Versicherungsbranche für die Umsetzung von Kernprozessen des Versicherungsgeschäftes als eine der ersten auf Großrechnersysteme, basierend auf Programmiersprachen wie Cobol oder PL1. Über Jahrzehnte sind diese Systeme bei Versicherern gewachsen, ausgebaut und angepasst worden, und so zu individualisierten und komplexen Alleskönnern mutiert.
Doch die Welt dreht sich weiter und der ehemalige Innovationsvorsprung ist fast aufgebraucht. Technologischer Fortschritt, sich ändernde Kundenerwartungen geprägt durch Kundenerlebnisse in anderen Branchen, Preissensibilität in Inflationszeiten gepaart mit totaler Preistransparenz durch Vergleichsportale und der stetig wachsende Wettbewerb, zuletzt befeuert durch InsurTechs und neu gegründete Digitalversicherer mit modernen IT-Strukturen, setzen Portfolios unter Druck und lassen Margen schrumpfen.
Kostendruck & Generationswechsel
Betrieb und Wartung von Großrechnerapplikationen stellen die Versicherungs-IT zunehmend vor Herausforderungen. Zum einen sind Großrechner kostenintensiv im Unterhalt. Da kommen schnell Millionenbeträge zusammen und jede Möglichkeit, die Rechenlast zu reduzieren, muss geprüft werden. Zum anderen gibt es keinen Nachwuchs in alten Mainframeprogrammiersprachen wie Cobol oder PL1.
Vor diesem Hintergrund erscheint eine Ablösung mit Standardsoftwarekomponenten sinnvoll. Sie basieren auf neuen Softwarearchitekturen wie z. B. Java und haben kein Nachwuchsproblem. Der Wartungsaufwand wird reduziert bzw. vom Hersteller übernommen und notwendige Änderungen der Software werden per Releasewechsel eingespielt (z. B. Regulatorische Änderungen). Parallel zu dieser Frischegarantie bieten die As-a-Service-Modelle der Softwareanbieter für Cloud und Software auch aus technologischer und Kostensicht flexible Strukturen für den Betrieb.
Bisher laufen die alten Systeme noch meist stabil genug und haben über die Zeit einen hohen Reifegrad erreicht. Sie decken erfahrungsgemäß alle spartenspezifischen Geschäftsvorfälle und Sonderprozesse ab, oft inklusive Nischenprodukten und angepasst auf das jeweilige Zusammenarbeitsmodell von Außen- und Innendienst im Unternehmen.
Implikationen von Klimawandel und neuen Marktdynamiken
Es könnte so schön sein, doch Extremereignisse wie das Dauertief Bernd haben Versicherer in der Schadensachbearbeitung vor neue Herausforderungen gestellt. Mitarbeiter aus anderen Fachbereichen und Sparten mussten kurzfristig aushelfen, um der Menge an gemeldeten Schäden Herr zu werden und den Versicherten schnelle Hilfe zukommen zu lassen. Dabei ist spürbar klar geworden, dass die althergebrachten Systeme eine hohe Einarbeitungszeit haben und komplex in der Bedienung sind.
Hier hat neue Software eindeutig einen Vorteil. Die Oberflächen sind modern und intuitiv gestaltet und Geschäftsvorfälle wie das Neugeschäft oder die Schadenanlage und Bearbeitung sind spartenübergreifend visuell und konzeptionell ähnlich. Damit begünstigen Standardlösungen nicht nur eine schnelle und flexible Arbeitsgutverteilung, sondern erfüllen auch die Erwartungen bezüglich der Benutzerfreundlichkeit insbesondere des Versicherungsnachwuchses.
Ein neues Versicherungsprodukt zu kalkulieren und in Produktion zu bringen, also für den Endkunden abschließbar zu machen, ist für Versicherungen ein in vielerlei Hinsicht aufwendiger Prozess. Das kann Wochen oder auch Monate dauern, doch der Trend im Markt geht zu immer mehr Produkten mit höherer Flexibilität und Individualität. Je nach Marktlage oder Kundenanfrage kann es notwendig sein, ein Produkt schnellstmöglich anzupassen oder mehrere Varianten eines Angebots in Echtzeit zu berechnen.
Will man im Konzert der Plattformanbieter (z. B. Check24) und Kooperationspartner (z. B. Autohersteller) mitspielen, ist es zudem notwendig, dass Schnittstellen- und Serviceaufrufe sowie Angebotsberechnungen deutlich unter einer Sekunde erfolgen, um im Gesamtablauf ein reibungsloses Kundenerlebnis nicht zu gefährden.
Diese Flexibilität und Reaktionszeit können Altsysteme per Design einfach nicht bieten. Um im heutigen Markt- und Wettbewerbsumfeld zu bestehen, muss man also schneller und agiler sein. Moderne Produktmaschinen z. B. führen den Anwender per Wizard durch grafische Oberflächen, bieten automatisierte Integrationstests und neue schnelle Deploymentoptionen. Von den Komponenten über die Reduzierung von manuellen Aufwänden und Systemabbrüchen kann neue Software also einen entscheidenden Beitrag leisten und bietet trotz Standardansatz genügend Individualisierungsspielraum, um sich von anderen Anbietern zu differenzieren.
Kundenanforderungen und IT
Lange Zeit haben sich Kunden treu und geduldig gegenüber ihrem Versicherer verhalten. Man könnte sogar fast sagen, sie waren träge oder nachsichtig, was den Mangel an Digitalisierung im Vergleich zu einem Kundenerlebnis bei Amazon und Co anbelangt. Doch das wird nicht ewig so bleiben. Beschleunigt durch die Coronapandemie haben Kunden sehr schnell gemerkt, welche Dienstleistungen und Services digital gut von zu Hause funktionieren und wo es Medienbrüche gibt, intransparent ist oder mal länger dauert.
Die gewachsenen Softwarearchitekturen der Versicherer sind den heutigen Anforderungen der Kunden oft nicht mehr gewachsen. Alles vom Handy erledigen, Relevanz, Transparenz und Aktualität über alle Kanäle und Fachbereichssilos hinweg, Ergebnisse auf Kundeninteraktion in Echtzeit und vieles mehr erfordern eine harmonisierte Applikationslandschaft und integrierten Datenhaushalt. All diese Anforderungen im Blick, wird unbewusst auch aus Kundensicht eine modernisierte Kernsystemlandschaft zum Wettbewerbsfaktor auf dem Weg zu digitalen Geschäftsprozessen.
Make or buy
Ist eine moderne IT also wieder ein Wettbewerbsvorteil wie in den 1960er Jahren? Bestimmt, sofern gepaart mit hoher Innovationskraft, modernen Produkten und guter Servicequalität. Wie sollte man dann vorgehen? Altsysteme anpassen soweit möglich, selbst neu entwickeln oder auf Standardlösungen vom Markt setzen? Das kann eine Einzelfallentscheidung sein und sollte sorgfältig abgewogen werden. Schaut man sich die letzten Jahre an, geht der Trend jedoch klar zur Modernisierung mit Standardlösungen. Es braucht ein solides Fundament aus Kern- und Querschnittssystemen, um sich zum digitalen Versicherer zu entwickeln, Geschäftsprozesse gemäß den Kundenerwartungen neu zu gestalten und die Potenziale von Cloud, Big Data, KI und Realtime skalierbar zu heben. Ein Blick ins Ausland zeigt, dass andere da schon weiter sind, während in Deutschland z. B. noch über Kosten, Projektaufwände oder Datenschutz debattiert wird. All diese Themen sind lösbar, es braucht aber in gewisser Weise einen Paradigmenwechsel und das richtige Mindset, denn klar ist: Versicherer müssen bereit sein, neue Wege zu gehen, zu investieren und sich anzupassen.